“Süße Lügen.” Tanja Selzer und ihr Herbarium voller fleischfarbener Abstraktionen
Es sind heikle Motive, die uns in der aktuellen Serie “Süße Lügen” erwarten. Nach “Sabotage” und “Keine Tränen für die Kreaturen der Nacht”, “Mind Candy” und den “Cadavre Exquis” nun also Halbnackte und Nackte in den Büschen. Eigentlich ein klassisches in der Geschichte der Kunst gut abgehangenes Sujet mit solch prominenten Altlasten wie Botticelli und Rubens und Manet und Cézanne und Picasso und so weiter. Fairerweise wäre auch Paula Modersohn-Becker zu nennen, diejenige Künstlerin, die 1906 das erste Aktselbstbildnis gemalt hat. Damals ein Affront sondergleichen. Eigentlich glaubt man schon alles gesehen zu haben. Doch es wäre nicht Tanja Selzer, wenn es ihr nicht gelungen wäre, diesem an sich abgedroschenen Thema neues (vibrierendes) Leben einzuhauchen. Angesichts der neuen Werke scheint es so, als ob Tanja Selzer den Begriff “Akt” in seinem ursprünglichen Sinne versteht; sich aus den Begriffen des “actus”, also der Gestikulation und des “agere”, was soviel meint wie sich in Bewegung setzen, ableitend.
Ihre Motive sind Screenshots aus dem globalen Bilderalbum des Internet. Outdoor-Momente, die sich irgendwo abspielen können. Kaum kompromittierend, wenn man sie am Bildschirm sieht. Andererseits sind diese Gemälde nicht nur von beachtlicher Größe, sondern zeigen die Körper in einem Farbraum, der auf uns beängstigend, irrational und in seiner gemalten Ekstase lustvoll zugleich wirkt. Irgendwie absurd wie sich die hautfarbenen Formen in diese unsagbare Welt farbiger Abstraktionen verirrt haben. Es ist genau dieser Widerspruch, der uns irritiert und der uns herausfordert. Aus der Nähe betrachtet wird diese Ekstase noch sichtbarer und spürbarer. So verschmelzen im floral-vegetabilen Liebesakt die Formen des Davor und Dahinter, die Schatten der Menschen und Büsche, die Farben der Gewänder und Pflanzen miteinander. Das Liebesspiel ist ein unmittelbares und ein Intimes; dem Moment und Ausschnitt ähnlich, den die Künstlerin aus der Fülle des ihr zur Verfügung stehenden Materials gewählt hat. Tanja Selzers subtile Techniken der Malerei sind dem dargestellten Thema entsprechend angepaßt. Kraftvolle kontrastreiche Stöße wechseln mit sanften rhythmischen Lasuren ab. Dramaturgisch überaus gekonnt lenkt sie den Blick der Betrachtenden über eine Vielfalt von malerisch geschickt inszenierten Augenblicken hin zum vermeintlichen Höhepunkt. Dieser bleibt im Unscharfen. Wie so oft bleibt es uns überlassen das Dargestellte in unserer Phantasie auszumalen oder das Dargestellte als das zu geniessen, was es nun einmal zuallererst ist: bemalte Leinwand und dies in einer überaus lustvollen Art und Weise.
Mit ihrer neuen Serie greift Tanja Selzer auf die Frühgeschichte des Aktes zurück, denn damals war dieser nicht religiös-moralisch verklärt, sondern diente zuallererst dem Kult der Fruchtbarkeit. So lotet Tanja Selzer in den Gemälden ihrer aktuellen Serie “Süße Lügen” nicht nur auf überaus gekonnte Art und Weise die Gesetze der Malerei aus, sondern spielt ebenso mit der seltsamen Gesinnung einer Gesellschaft, die vor lauter Überdruß an virtueller Pornographie scheinbar zurück ins Gebüsch muß.
Harald Krämer