-Through the Looking Glass -ein Text von Christian Martinez Schwabbauer

Peter Doherty fotografiert von Andreas Endermann

-Through the Looking Glass –

Ein Porträt Peter Dohertys als bildender Künstler

In diesem Jahr jährt sich das Erscheinen des lauten und triumphierenden Debütalbums der Band „The Libertines“ zum zwanzigsten Mal. Eine Band, anarchisch, mit lyrischen Songtexten, die starke literarische Bezüge aufweisen, die Utopien eines anderen Englands „Albion“ sowie elektrisierende Charaktere, Dramen und Ekstasen im Hier und Jetzt beschwören.

Im November 2002, wenige Stunden vor dem ersten Auftritt der Libertines in Berlin, stand ich mit einem Freund in einem Späti, um noch ein paar Getränke zu kaufen, als die Tür aufging und eine große blasse Gestalt uns fragte, ob wir ihm Geld leihen könnten für eine Flasche Rum. Als wir ihm entgegneten, dass wir das Geld für Tickets bräuchten, sagte er augenzwinkernd, er könne uns auf die Gästeliste setzen, da er in der Band sei. Das war mein erstes Aufeinandertreffen mit Peter Doherty als ich noch ein junger Student war, und ich meine Seele längst an die Poesie und den Rock‘n‘Roll verloren hatte. Jahre später begann ich Werke von ihm zu sammeln und es entstand über die Jahre auch eine persönliche Freundschaft.

Neben seiner musikalischen Karriere, die die Libertines, Babyshambles, Peter Doherty and The Puta Madres sowie musikalische Solowerke einbezieht, ist der Künstler für viele leider nur durch seine mediale Präsenz in der Boulevardpresse in Erinnerung geblieben. Die Medien erschufen eine Figur, einen Golem oder Doppelgänger im klassischen Sinne, der sich verselbständigte und soziopolitisch mal Held, Antiheld, Schurke oder Verlierer war. Wenig ist von seinem schriftstellerischen Werk als Dichter oder als bildender Künstler bekannt.

Im Jahr 2005 erschien das erste Bild des Künstlers in der Öffentlichkeit auf dem Cover eines britischen Literaturmagazins, in dem Doherty regelmäßig eigene Prosa und Gedichte publizierte. Es handelte sich um ein mit Blut gemaltes Selbstporträt, versehen mit einem Zitat aus Wolfgang Goethes „Faust I“: „Any small scrap of paper is good. For signature a drop of blood.“ Er geht damit auf die berühmte Szene ein, in der Faust den Pakt mit Mephistopheles mit seinem eigenen Blut besiegelt. Im Fall Dohertys ist es der eigene Pakt mit dem Ruhm und die damit verbundene Selbstzerstörung. Ein Pakt, den er als Künstler einging, bereit für sein Begehren – das Sammeln von Erkenntnissen und Erfahrungen abseits der gesellschaftlichen Normen – einen hohen Preis zu bezahlen.

Doherty nutzte zu der Zeit Blut als Stilmittel; nicht um zu schockieren, sondern weil er es als Symbol der Selbstaufopferung des Künstlers sah, der alles was er in sich hat, in sein Leben, seine Musik und seine Bilder einfließen lässt. Neben Blut nutzt Doherty in seinen Werken verschiedene Maltechniken, Collagen, Acryl, Kohle- und Bleistiftzeichnungen sowie klassische Pigmentfarben. Thematisch konzentrierte er sich zu dieser Zeit, in der er unter einer schweren Drogenabhängigkeit litt und die Medien ihn nur auf diese und die Frau an seiner Seite, das britische Topmodel Kate Moss reduzierten, auf die Erkundung des inneren Selbst, die Identität.

Die bildende Kunst bot Doherty neben der Lyrik eine mehr physische Ausdrucksweise, die er als illustrativer Maler jedoch mit vielen anderen Elementen verband. Nostalgische Objekte wie Fragmente des Union Jack, Verse aus Gedichten oder Liedern, Zitate aus kanonisierten Filmen oder Büchern, auf der Schreibmaschine geschriebene Textfragmente oder mit seinem Drogenkonsum verbundene Objekte. Literarische Figuren wie Arthur Rimbaud, Charles Baudelaire, George Orwell, Samuel Beckett, Oscar Wilde, Antonin Artaud; Schauspieler wie Edward G. Robinson oder der britische Komiker Tony Hancock. Der französische Romancier Maurice Leblanc inspirierte Dohertys letzte Werkausstellung und sein aktuelles Kollaborationsalbum mit dem französischen Musiker und Produzenten Frédéric Lo: „The Fantasy Life of Poetry and Crime“.

Aufgrund seiner Passion für das klassische Genre des Film noir finden auch Zitate und Figuren aus diesem Platz in Dohertys Werken. Besonders erwähnenswert ist hierbei die mit Frank Sinatra besetzte und von Otto Preminger im Jahr 1955 verfilmte Romanvorlage von Nelson Algrens „The Man with the Golden Arm“. Der Film thematisiert die Heroinsucht und die düstere Seite des American Dream und bietet biografische Parallelen zu Dohertys Leben. Auch politische Themen werden verarbeitet; so findet man eine Zeichnung in einem Werk, in der Doherty die Britische Nationalmannschaft bei der Olympiade 1936 in Berlin beim „Hitlergruß“ zeigt. Die Zeichnung bezieht sich auf ein existierendes Foto und bildet die „surreale“ Realität ab, da sich das Deutsche Reich und Großbritannien drei Jahre später im Krieg befanden. Logischerweise spielen zudem Musikinstrumente, collagierte Backstagepässe, Konzertfotos, Songskizzen und andere Elemente aus seinem Musikerleben eine wichtige Rolle.

Das visuelle Werk bildet gemeinsam mit dem schriftstellerischen und musikalischen Schaffen kommunizierende Gefäße. Keines schließt das andere aus und überall kann Poesie und Magie entstehen und sich verbinden. Auf inhaltlicher Ebene funktioniert das visuelle Werk Dohertys wie ein analoger Hypertext, ein nichtlineares Netz an Informationen und Querverweisen, das sich durch Mehrdeutigkeit, Intertextualität, Assoziativität und Neukontextualisierung auszeichnet. Einen Teil der Intertextualität in Dohertys visuellem Werk bilden die schreibmaschinengeschriebenen Seiten und Fragmente. Sie sind eine Mischung aus Kunst und Literatur. Wie William S. Burroughs nutzt Doherty die Schreibmaschine als illustratives Mittel. Inhaltlich beschreibt er spontan Geschehnisse und Beobachtungen aus seinem Alltag. Wie bei Hunter S. Thompson entstehen auch delirierende subjektivistische Geschichten, Songs oder auch Romanskizzen, Ideen für Theaterstücke sowie Geschichten, in denen sein Alter-Ego „Ed Belly“ oder „Lonely Villain“ eine Rolle spielen.

Es muss hier erwähnt werden, dass der Künstler eine große Schreibmaschinensammlung besitzt und Schreibmaschinen als Objekt auch in seinem visuellen Werken Beachtung finden. Zusammen mit den schreibmaschinengeschriebenen Seiten und den sehr gerne genutzten Tagebüchern, den „Books of Albion“ bilden sie die Erinnerung des facettenreichen Künstlers, der die größte Zeit des Jahres auf Tour mit seinen Bands oder solo unterwegs ist. So reist man als Betrachter seiner Werke mit ihm durch die verschiedensten Länder und abenteuerliche Situationen.

Doherty ist bei der Erschaffung seiner Kunst als auch seiner Person absolut im Hier und Jetzt. Alles wird durch die Emotionen des Momentes diktiert. Es gibt keine Strategie oder Planung bei der Erstellung der Werke, jedoch eine Dringlichkeit und Spontanität, die den Zuschauer in seinen Bann zieht. Der Inhalt seiner Werke ist von großer Authentizität, er öffnet sein Leben schonungslos dem Zuschauer. Durch seine schwere Drogensucht, Aufenthalte in Drogenrehabilitationszentren weltweit, Konflikte mit dem Gesetz, Gefängnisaufenthalte und Kontakt zur Unterwelt berichtet uns der Künstler von einer anderen düsteren, schmerzhaften und opiumgeschwängerten Welt. Er hat diese Parallelwelt entdeckt und erkundet, hat Erkenntnisse und Inspirationen gewonnen, die er großzügig mit uns teilt. Sein Schaffen ist sein Versuch, seine Erfahrungen und die Realität zu rationalisieren und sich von den Dämonen zu befreien.

Im Jahr 2007 wurde ein Druck seines Blutbildes „In for a Penny“, welches ihn vor dem Publikum im Konzerthaus Hackney Empire zeigt, in Berlin gedruckt. Im gleichen Jahr erfolgte in London die erste Ausstellung seiner Werke der Serie „Bloodworks“, die großen Erfolg hatte. In dieser Ausstellung präsentierte er mit der Montage „Blackbird“ Objektkunst, die mit dem Songtitel der Beatles und seiner Heroinsucht spielt. Ein Jahr später ging die Ausstellung unter dem Namen „The Art of Albion“ nach Paris. Ebenfalls wurden seine Tagebücher, die zahlreiche Collagen und Texte, Gedichte oder einfach Notizen enthalten im gleichen Jahr unter dem Titel „The Books of Albion“ gedruckt. Im Jahr 2012 konnten persönliche Gegenstände aus seiner Sammlung wie Schreibmaschinen, Flaggen, antike Tabakdosen oder Möbel neben neuen Werken in London in der Einzelausstellung „On Blood“ betrachtet und erworben werden. Unter letzteren befanden sich auch Objekte, die in Kollaboration mit der französischen Malerin und Schriftstellerin Alizé Meurrisse entstanden waren. Zu nennen wären hier beispielsweise das emblematische Cover des Soloalbums „Grace / Wastelands“ sowie das Cover des Babyshambles-Albums „Shotter‘s Nation“, welches Henry Wallis Gemälde „The Death of Chatterton“ in einer Collage emuliert. Die meisten Cover seiner Platten und das dazugehörige Artwork hat der Künstler jedoch selbst geschaffen. Besonders hervorzuheben ist hier die Collage, die das Cover von Peter Dohertys zweitem Soloalbum „Hamburg Demonstrations“ schmückt. Weitere Ausstellungen fanden in Paris, Genf und Barcelona unter den Titel „Flags of the Old Regime“ statt.

Einen Wendepunk erfuhr seine Arbeit im Jahr 2014, nachdem Doherty einen buddhistischen Mönch während eines Aufenthalts in einer Rehabilitationsklinik in Chiang Mai, Thailand traf. Dieser riet ihm davon ab, weiter mit Blut zu malen. Seitdem nutzt er für seine Werke ein breiteres Spektrum an Farben und setzt mehr bildliche Elemente ein. Wie beispielsweise Andy Warhol nutzt auch er das Stilmittel der Duplikation von Figuren oder Objekten in seinen Werken, die er anders als Warhol jedoch entfremdet und in verschiedenen Ausarbeitungen wieder zusammensetzt und gegenüberstellt. Ähnlich wie die Werke des US-Künstler Jean-Michel Basquiat bildet das visuelle Werk von Doherty ein Fenster in sein Unterbewusstsein, das er für den Zuschauer öffnet und das nur mit der Fantasie des Betrachters erkundet und verstanden werden kann.

 

Im Jahr 2018 war Peter Doherty Teil einer Gruppenausstellung in der janinebeangallery in Berlin, weitere Ausstellungen folgten. 2021 waren Werke Dohertys unter dem Titel „The Fantasy Life of Poetry and Crime“ in Paris zu sehen. Im gleichen Jahr stellte er in einem Gefängnis ins Schottland aus und ließ sich von Häftlingen zeichnen. Mit der Ausstellung „Contain yourself (seriously)“ findet in diesem Jahr erstmals eine Retrospektive seiner Arbeiten in der Berliner janinebeangallery statt. Es ist viel Zeit vergangen, seitdem Peter Doherty als Jugendlicher begann, Tagebücher zu füllen und zu malen, nach London zog und zu einem gefeierten Musiker wurde, Skandale und Erfolge erlebte und sich bis heute künstlerisch weiterentwickelt hat. Peter Doherty ist mittlerweile verheiratet und von der Drogensucht befreit. Er lebt in der Normandie, wo er auch ein Atelier hat. Es lohnt sich allemal, einen genauen Blick in sein reiches und originelles künstlerisches Œuvre zu werfen. Ob bildende Kunst, Musik oder Poesie.

Peter Doherty antwortete einmal auf die Frage, warum seine meisten Selbstporträts aus leeren Silhouetten bestehen: Es sei kein Problem der fehlenden Identität, sondern das Unwissen darüber, was wirklich in ihm stecke. Viel Freude beim Erkunden!

Christian Martinez Schwabbauer